Was hilft wirklich bei Trauma? 6 Kontraintuitive wissenschaftliche Fakten
Ahnst du, oder hast du für dich erkannt, dass die Probleme, die du hast, durch Trauma verursacht sind? Dann stellst du dir vermutlich die Frage "Wie kann ich mein Trauma heilen?" Hier findest du die Antworten des Trauma-Experten Bessel van der Kolk auf diese Frage. Bessel van der Kolk ist ein Pionier der Traumaforschung und ein weltweit anerkannter Experte auf diesem Gebiet. Er war Professor für Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Universität Boston und ist der Gründer des Trauma-Centre in Brookline in Massachusetts. Einer breiten Öffentlichkeit ist er durch sein 2014 erschienenes Buch "The Body Keeps the Score" (deutsch: Verkörperter Schrecken") bekannt, das im Sommer 2022 auf über 150 Wochen auf der New York Times Bestsellerliste zurückblicken konnte.
Medikamente bei Trauma sind wenig wirksam
Zu Beginn seiner Laufbahn als Psychiater evaluierte van der Kolk in verschiedenen Studien die Wirksamkeit von Psychopharmaka zur Behandlung von Trauma. Keines der untersuchten Medikamente erwies sich als zufriedenstellend wirksam. Welche wenig konventionellen Methoden in wissenschaftlichen Studien hingegen hohe Wirksamkeit zeigten, erläutert Bessel van der Kolk im Video oben, dessen Inhalt ich unten ins Deutsche übersetzt habe.
Vorausgeschickt sei: Die Ergebnisse sind mehr als überraschend. Vieles von dem, was Bessel van der Kolk hier sagt, klingt eher verrückt als nach "seriöser psychiatrischer Behandlung." Allerdings ist die Wirksamkeit der "verrückten Methoden" wissenschaftlich ebenso belegt, wie die mangelnde Wirksamkeit der konventionellen Behandlungsmethoden von Trauma. Weiterzulesen lohnt sich für diejenigen, die bereit sind, sich einigen wirklich kontraintuitiven wissenschaftlichen Fakten zu öffnen.
6 Wege Trauma ohne Medikamente zu heilen | Bessel van der Kolk | Big Think
Ich bin in der Mainstream-Kultur aufgewachsen. Wenn es einem schlecht ging, war die normale Maßnahme, etwas einzunehmen, damit es einem besser geht. Als ich begann, mit Vietnam-Veteranen zu arbeiten, habe ich damit begonnen, auf die Behandlungsmöglichkeiten zu schauen, die wir hatten. Ich führte die erste Studie über Prozac zur Behandlung von PTSD (deutsch PTBS-Posttraumatische Belastungsstörung) durch, die erste Studie über Zoloft zur Behandlung von PTSD - und Studien über eine ganze Reihe weiterer konventioneller Medikamente. Es zeigte sich, dass all diese Medikamente nicht besonders wirkungsvoll waren. Unsere konventionelle Art das Thema anzugehen, zeigt keine guten Ergebnisse. Also habe ich mir gedacht: Ok, wenn die Medikamente nicht funktionieren, dann schauen wir mal, was funktionieren könnte. Bei einem Trauma passiert folgendes: Etwas stößt dir zu. Der Teil deines Gehirns, der für "Überleben" zuständig ist, gibt einer erste Einschätzung: Ist das gefährlich, oder ist das sicher? Es ist also sehr wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass diese Reaktionen (nicht rational sind, sondern) vom Körper ausgehen. Die große Herausforderung bei der Behandlung von Trauma ist also folgende: Wie können wir Menschen helfen, in Körpern zu leben, in denen sie sich grundsätzlich sicher fühlen?
1. Psychotherapie
Wir haben festgestellt, dass wirklich gute Psychotherapie ein sehr hilfreicher erster Schritt ist. Die Psychotherapie wird die aus dem Trauma resultierenden Probleme nicht aus der Welt schaffen. Aber sie kann Betroffenen helfen anzuerkennen "Das was mir passiert ist war schrecklich. Ich muss mich um diese Wunden kümmern, die ich in mir trage." Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln und zu verstehen, dass die eigenen Reaktionen verständlich sind, ist ein wichtiger erster Schritt, um sich von einem Trauma zu erholen.
2. EMDR
Mir eröffnete sich ein völlig neue Welt, als einige Leute in meiner Klinik begannen, etwas sehr Seltsames zu tun, das EMDR genannt wird. Dabei bittet man die Leute, die Erinnerung an das, was sie damals gefühlt und gesehen haben, abzurufen. Und dann bewegst man seine Finger vor ihren Augen von einer Seite zur anderen und bittet die Patienten, mit Ihrem Blick den Fingern zu folgen. Meine erste Reaktion als ich das sah war "Leute, hört mit diesem Unsinn auf! Das ist völlig verrückt!" Doch dann sah ich die Ergebnisse und dachte "Wow! Das ist interessant!" Mit den Fingern vor den Augen von Menschen zu wackeln, während sie über ihr Trauma nachdenken, lässt das Trauma verschwinden. Diese verrückt Eye Movement Desensitization verändert tatsächlich Schaltkreise des Gehirns, um ihre aktuelle Wirklichkeit aus einem anderen Blickwinkel zu interpretieren. Das hatte erstaunliche Auswirkungen auf die Fähigkeit der Patienten, Dinge loszulassen. Sie sagten "Ja, das ist mir passiert. Aber es ist vor langer Zeit passiert. Es passiert nicht jetzt." Das war das erste Mal, dass ich gesehen habe, das eine nicht konventionelle Technik eine sehr tiefgreifende Wirkung hatte.
3. YOGA
Danach haben wir begonnen, Yoga als Therapieform zu erforschen. Wenn Sie Yoga machen, öffne Sie sich für eine tiefere Beziehung mit Ihrem Körper. Sie lernen, wie man ruhig atmet. Sie lernen, sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sehen, welche Wirkungen verschiedene Bewegungen und Körperhaltungen auf Sie haben. Auf diese Art formen Sie eine tiefe Beziehung mit Ihrem inneren Sinnesystem. Yoga erwies sich als effektivere Behandlungsform für Trauma als alle Medikamente, die wir in Studien untersucht hatten.
4. Theater und Bewegung
Das nächste, was wir untersucht haben, war Theater und Bewegung. Es stellt sich heraus, dass das verkörpern verschiedener Rollen, Ihnen helfen kann zu spüren, dass Ihr Körper sich unterschiedlich anfühlen kann, je nachdem wie Sie Ihre Beziehung zu sich selbst organisieren.
Ich leben in Berkshires und wir haben hier ein großartiges Programm namens "Shakespeare vor Gericht". Als jugendlicher Delinquent haben Sie in diesem Landkreis eine 50prozentige Chance, dass der Richter Sie verurteilen wird, ein Shakespeare-Darsteller zu werden. Das ist Zivilisation, huh? Das Shakespeare-Programm ist enorm hilfreich, denn es hilft den Menschen ihren Körper zu fühlen. Und zu fühlen, wie es sich anfühlt, ein König zu sein, wie es sich anfühlt, ein Krieger zu sein. Und sie können eine tiefer Erfahrung ihrer selbst im (Rahmen verschiedener) Möglichkeiten zu (sein) machen.
5.Neurofeedback
Das nächste, was ich untersucht habe, ist Neurofeedback. Es ist tatsächlich möglich, Elektroden so an Ihrem Schädel anzubringen, dass Sie jedes Mal eine kleine Belohnung erhalten, wenn sie eine Gehirnwelle erzeugen, die Ihnen hilft, ruhig und konzentriert zu sein. Neurofeedback hat in unseren Studien sehr gut abgeschnitten. Auf diese Art können wir Ihr Gehirn so formen, das es schließlich eine andere Konfiguration hat, um offen für neue Erfahrungen zu werden. Psychodelika
6.Psychodelika
Und dann, vor etwa 15 Jahren, kamen zwei Typen um mit mir zu sprechen und sie sagten: "Bessel, Sie wissen so viel über Trauma, was halten Sie von dieser Idee? Wir denken über Psychodelika nach. Was denken Sie über Psychodelika für Trauma?"
Und ich dachte "Wow! Sie sprechen mir aus dem Herzen! - weil ich natürlich ein Kind der 60er bin und wir LSD und psychedelische Substanzen ausprobiert haben. Wäre es nicht großartig, wenn wir psychodelische Substanzen herstellen könnten, um zu sehen, ob diese Substanzen den Geist der Menschen öffnen können? So dass sie sehen, dass ihre Lebenswirklichkeit nur ein kleiner Ausschnitt der Realität ist." Aber ich sagte: "Tun Sie das nicht! Es wird Ihre Karriere zerstören! Diese Drogen sind illegal." Und sie sagten: "Vielen Dank für Ihre Meinung! Wir werden es trotzdem versuchen."
Sie bekamen die Erlaubnis, eine Studie über MDMA - auch bekannt als Ecstacy oder Molly - zur Behandlung von Trauma durchzuführen. Und es ist ziemlich gut gelaufen. Es gelang ihnen eine große Summe Geld zu sammeln, um eine sehr große und extrem teure Studie durchzuführen.
Viele verschiedene Standorte in den USA, einer in Israel, einer in Kanada.
Lassen Sie mich erläutern, wie die Studie aufgebaut ist. Nach einer ausgiebigen Vorbereitung, haben Sie einen ganzen Tag Zeit, um Ecstasy zu nehmen. Sie liegen acht Stunden lang auf dem Bett, zwei Therapeuten stehen Ihnen zur Seite. Was wir bei den Leuten sehen, die das Medikament bekommen, ist erstaunlich. Menschen können an innere Orte gehen, die sich nie sicher angefühlt haben. - Das ist kein Picknick. Sie sehen die schrecklichen Dinge, die Ihnen wiederfahren sind. Aber MDMA ermöglicht es den Menschen, sich selbst mit Mitgefühl zu sehen. Der Grad an Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein schießt in die Höhe. Und anstatt sich selbst die Schuld zu geben, können Sie sagen, "Ja, das ist, was mir passiert ist. Aber es ist vorbei."
Ein Teil dessen, was mich all die Jahre so beschäfitgt hat, ist die Frage, wie wir eine Behandlung finden können, die es erlaubt, das grundlegende Gefühl von Mangelhaftigkeit und Selbsthass zu kontrollieren. Und jetzt sieht es so aus, als hätten wir etwas gefunden, dass einen sehr erheblichen Rückgang des PTDS herbeiführt. Vermutlich mehr als alles andere, was wir untersucht haben.
Wichtig ist: "One size doesn't fit all". Unterschiedliche Menschen brauchen sehr unterschiedliche Dinge. Was bei meinem letzte Patienten sehr gut funktioniert hat, funktioniert vielleicht nicht bei Ihnen. Alles im Leben ist ein Experiment. Und Heilung von einem Trauma ist ein Experiment.