Seelenlandschaften-Die Vie Cave

Die Idee, dass es Landschaften gibt, die direkt zu meiner Seele sprechen, kam mir, als ich begann, die Vie Cave zu erkunden. Meine ersten Wanderungen auf diesen über 2500 Jahre alten Wegen schienen traumverhangen und geheimnisvoll. Es war als dehne sich meine Wahrnehmung in die Vergangenheit aus und ein Staunen beschlich mich. Ein Staunen, dass sich anfühlte, wie das Staunen des Wiedererkennens. Ein Deja Vu? In mir wuchs die merkwürdige Empfindung, in Kontakt mit einem tiefen Geheimnis zu sein, das mich einhüllte wie der vertraute Duft einer verblassten Erinnerung. Mit jedem Schritt durch die engen Hohlwege wurde das Gefühl in mir stärker, nach Hause gekommen zu sein – nach Hause gekommen zu sein, in das Gefühl, das der Ort in mir auslöste.

Die Vie Cave sind tief in den Fels geschlagene Hohlwege, die die Landschaft rund um die Tuffsteinstädte Pitigliano, Sovana und Sorano prägen. Die drei steinernen Schönheiten, deren Tuffsteinhäuser in der Abendsonne einen rotgoldenen Glanz entwickeln, sind weit älter als ihre mittelalterliche Architektur vermuten lässt. Die Siedlungsgeschichte dieser Gegend reicht mehr als 3500 Jahre zurück. Lange bevor Rom die Region seinem stetig wachsenden Imperium einverleibte, hatten die Etrusker das Land geprägt – im wahrsten Sinne des Wortes. Ganz im Gegensatz zu den Römern, deren monumentaler Baustil gen Himmel strebte, arbeiteten die Etrusker nach unten, ins Innere der Erde.

Sie öffneten den Fels und schufen im Innern des vulkanischen Tuffsteins Höhlen, Gräber und Kultstätten. Mit Spitzhacken schlugen sie Tunnel, Galerien und Hohlwege in den Fels, legten sich verzweigende Labyrinthe an und dunkle Gänge, die von den Städten abwärts führten - tiefer und tiefer in die Erde hinein.


Was suchten sie hier, in den kalten, dunklen Gängen, in denen Farne und Flechten den klammen Stein grün schimmern lassen? Was bewog die Etrusker, sich mit Kraft und Ausdauer von Eichenwurzeln durch den Felsen zu graben und ihren Weg durch die Dunkelheit zu gehen, bis das Licht am Ende der von ihnen selbst geschaffenen Tunnel wieder sichtbar wurde?

Das Buch „Wege im Fels“, das ich gleich zu Beginn meines Aufenthaltes in Sorano entdeckte, vermittelt eine erste Vorstellung vom Weltbild der Etrusker, das in einer zutiefst symbolischen Architektur zum Ausdruck kommt. Die Erschaffung der weitläufigen Nekropolen muss ein kaum vorstellbares Maß an Zeit und Energie gekostet haben. Ihre schiere Existenz spricht in klarer Sprache über den Stellenwert, den die Ahnen und die Welt jenseits des Lebendigen für dieses Volk gehabt haben muss.


Der Struktur nach waren sie symbolische Handlungen. Das phyische Hinabsteigen in die Dunkelheit barg in sich die Herausforderung, die Angst vor Unterwelt und Tod zu überwinden. Die Wanderer mussten ihren Weg durch die Dunkelheit finden, um mit der Rückkehr ins Licht als geläuterte und gestärkte Version ihrer selbst wiedergeboren zu werden. Insofern symbolisierte das Hinabsteigen in die Tiefen der Erde auch ein Hinabsteigen in die Abgründe der Seele, eine Verweilen in der Tiefe, ein tastendes Erkunden eines Raumes, in dem Augen und Verstand wenig ausrichten können. Was mögen siegefunde haben, in diesen Abgründen, die sie in ritueller Weise aufsuchten?


Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass ich in den Vie Cave nach Hause kam in ein Gefühl, dass der Ort in mir auflöste „Gruftig!“ gurrt mein siebzehnjähriges Selbst, das gerade neben mir steht und mit den Totenköpfen an seinen Pikes klappert... Aber die Süße hat keine Ahnung. Es geht hier nicht um dunkle Romantik. Es geht um Erfahrungen, die tief genug sind, um die Seele zu berühren.


Im Innern der Erde, dort, wo alles Lebendige wurzelt,verorteten sie zugleich die Heimat der Toten. Nur wer hinabsteigt in die Tiefeder Erde, mag jenen geheimnisvollen Ort jenseits von Zeit und Raum finden, indem die Welten der Lebenden und der Toten miteinander in Verbindung treten, soglaubten sie. Um diesen Ort zu erreichen, machten sich die Etrusker auf den Wegin die Dunkelheit durch Labyrinthe und lichtlose Pfade im Fels. Bedenkt man,das man noch vor 20 Jahren in den Vie Cave bei Pitigliano auf Vipern treffen konnte, die sich die Felswände hinabbwanden, waren diese rituellen Wanderungenweder ein Spaziergang noch ein Vergnügen.

Als ich ankam, hier in der südlichen Toskana, auf der Suche nach einem Ort, der mir erlauben würde, nach meinen eigenen Vorstellungen zu leben und meinem Kind das Freilernen zu ermöglichen, hatte ich einige Jahre intensiver Erforschung meines eigenen Schattens hinter mir. Mit Schatten meine ich hier, all die Teile meiner Selbst, die ein Eigenleben in mir führten, ohne dass ich von ihnen wusste und ohne dass ich ahnte, welchen Einfluss sie auf den Verlauf meines Lebens nehmen würden.

Ich war in die Tiefe gegangen, ich hatte die Dunkelheit erfahren und die Angst, die sie mit sich bringt. Und dann, während ich tiefer und tiefer fiel, bemerkte ich eine innere Wärme. Ein tiefes Gefühl von Getragen und Geborgen sein im Fall und in der Dunkelheit. Ich begann, die eigenartige Schönheit meines Weges wahrzunehmen und die paradoxe Wahrheit, dass ein unendliches Maß an Verbindung im All-ein-sein möglich ist.

Ich weiß nicht, ob dies die Erfahrung der Etrusker war, die ihren Weg in der Dunkelheit der Nekropolen und Vie Cave gingen. Aber ich wünsche es ihnen. Was ich weiß ist, dass ich in den Vie Cave nach Hause komme in dieses Gefühl, Heimat gefunden zu haben in der Tiefe, in der Dunkelheit, in der Verbindung mit der Erde und all ihren Wesen, den Lebenden und den Toten.

Dies ist meine ganz persönliche Weise, diese Landschaft zu erfahren. Eine Kette merkwürdiger Zufälle hat mich an diesen Ort geführt, von dessen Existenz ich bis vor drei Jahre nicht wusste. Ich wandere durch diese Landschaft und fühle, wie eine persönliche Wahrheit in mir wächst und Gestalt annimmt. Ein intuitives Ahnen und Wissen von Dinge jenseits der Alltagswahrnehmung, dass unendlich kostbar für mich ist – und keinerlei Gültigkeit für irgendjemand anderen hat.

Die Faszination dieser Landschaft liegt für mich nicht allein in dem merkwürdigen Gefühl des Wiedererkennens. Sie liegt in dem immensen Potential des Ortes, zum Spiegel innerer Befindlichkeiten zu werden. Es mag sein, dass genau dies die Intention der etruskischen Architekten der Vie Cave war. Möglicherweise schufen sie mit feinem Gefühl für die Energien des Ortes Erfahrungsräume, in denen die Seele ihre Schatten im Spiegel tanzen sieht. Das mag einer der Gründe sein, weshalb dieser Ort auf mich so heilsam wirkt. Die Schatten möchten gesehn, angenommen und in mein Selbst integriert werden.

Auf andere Menschen mögen die Vie Cave eine völlig andere Wirkung haben. Sie mögen unseren kindlichen Forscherdrang und unsere Abenteuerlust wecken. Sie mögen uns Hoffnung und Kraft in schweren Zeiten schenken, wenn wir sehen, mit welcher Kraft hier Pflanzen aus dem harten Fels heraus ins Licht zu wachsen scheinen. Sie mögen uns mitnehmen auf eine Zeitreise oder uns an einem heißen Sommertag eine erfrischende Wanderung ermöglichen. In jedem Fall werden sie unsere Seele berühren.